Allgemeines

Lehrende:r
Dr. Birte J. Specht

Kopf von Mensch mit dunklem Haar und heller Haut: lächelnd

Veranstaltung
Problemlösen im Mathematikunterricht – Fachdidaktische Grundlagen und Fallbeispiele

Modul
mat455 – Entstehung mathematischer Erkenntnis beim Forschen und Lernen
mat470 – Fachdidaktisches Seminar

Studiengang
Mathematik – Master of Education (Gymnasium / Wirtschaftspädagogik)

Fakultät
Fakultät V – Mathematik und Natur­wissenschaften

Institut
Institut für Mathematik

Semester
WiSe 2022/23

Turnus
Wöchentlich

Anzahl Studierende
25

KP des Moduls
3 KP

Prüfungsform
Hausarbeit / Kurzreferat + Ausarbeitung zur Durchführung und Analyse eines Interviews mit SuS basierend auf einer Diagnoseaufgabe

Kategorien
Forschendes Lernen
Lehrkräftebildung
Mathematik und Naturwissenschaften
Seminar

Um das Diagnostizieren der mathematischen Voraussetzungen von Schüler*innen sowie das Entwickeln von darauf abgestimmten Lerngelegenheiten zu erlernen, führen Studierende selbständig ein kleines qualitatives Forschungsprojekt durch.

Vier gemalte Kasten mit verschiedenen Früchtkombinationen und Preisen im Innern. Text: 
Mara kauft auf dem Wochenmarkt Obst für insgesamt 18,50€ ein. Auf den Bildern kannst du sehen, was vorherige Kunden eingekauft haben und wie viel sie für die jeweilige Menge an Früchten bezahlen mussten. Was könnte Mara eingekauft haben?
Abb. 1: Eine Diagnoseaufgabe, die die Studierenden im Seminar entwickelt und für ihre Forschung genutzt haben

Qualitative Forschung in der Mathematikdidaktik: Rekonstruktion von Vorstellungen, Denk-, Lern- und Problemlöseprozessen ↔ Schulpraxis: Erfassung und Bewertung von Lernständen und –prozessen: Diagnostische Fähigkeiten

Diagnosekompetenz im Mathematikunterricht

Lernen ist ein komplexer Prozess, der von vielen Faktoren beeinflusst wird. Zentrale Faktoren sind dabei Lerngelegenheiten – im Mathematikunterricht sind dies zumeist Aufgaben – und deren Angepasstheit an die Voraussetzungen, die die Schüler:innen mitbringen. Insofern stellen das Diagnostizieren der Voraussetzungen sowie das Entwickeln von darauf abgestimmten Lerngelegenheiten zentrale Anforderungen an Lehrpersonen dar, die es im Studium zu vermitteln gilt.

Als ein Baustein hierfür ist das vorliegende Seminar konzipiert, in dem diese beiden Aspekte zunächst ein theoretisches Fundament erhalten und anschließend in einem kleinen qualitativen Forschungsprojekt die die Praxis transferiert werden sollen um die Theorie zu erfahren und – vorbereitend für die Unterrichtspraxis – zu erlernen.

Literaturbasiert wird die Frage erörtert, wie lernförderliche Aufgaben und gute Diagnoseaufgaben aussehen. Während verfahrensorientierte Aufgaben dazu dienen, bereits kennengelernte Lösungswege zu üben und zu festigen, bieten verstehensorientierte Aufgaben die Möglichkeit, mathematische Zusammenhänge selbstständig zu erforschen, Verständnis aufzubauen und eigene Lösungsideen zu entwickeln (Büchter & Leuders, 2005). Auch für die verstehensorientierte Diagnose sind solche Aufgaben zentral, sie müssen valide ein zu diagnostizierendes Ziel – wie Grundvorstellungen zu bestimmten mathematischen Themen – abfragen. Die Kenntnisse darüber bilden eine Grundlage für die Ausbildung einer Diagnosekompetenz, die zentral für die Entwicklung einer professionellen Kompetenz ist (Fischer et al., 2014).

Weitere theoretische Grundlagen bilden mathematikdidaktische Erkenntnisse zum Problemlösen – dem prozessbezogenen Schwerpunkt des Seminars – sowie zur qualitativen Forschung.

Herausforderungen bei der Diagnose und Aufgabenkonzeption werden oft erst ersichtlich, wenn es konkret wird. Dann können diese zur Initiierung von Lernprozessen bei den Studierenden fruchtbar werden: Wissen auf theoretischer Ebene zu erlernen und auf praktischer Ebene umzusetzen und dadurch zu durchdringen und anwendbar werden zu lassen ist das zentrale Ziel des hier vorgestellten Seminars.

Lernziele des Seminars

Die durch das Seminar zu erreichenden Lernziele sind die Ausbildung grundlegender didaktischer Kompetenzen wie die Diagnosekompetenz und die Kompetenz zur Analyse und Konzeption von Aufgaben. Durch die Vorbereitung der qualitativen Forschung soll das theoretische Wissen zur Diagnose exemplarisch angewendet und konkretisiert werden. Durch die Durchführung und Auswertung der qualitativen Interviews wird die Fähigkeit des Analysierens und diagnostischen Schließens gefördert. Abschließend sollen an die gewonnenen Erkenntnisse anknüpfend lernförderliche Aufgaben konzipiert werden, die sinnvolle Forder- oder Fördermaßnahmen darstellen. Es geht darum, gehaltvolle Situationen zu generieren, Episoden fundiert und didaktkisch adäquat zu verstehen sowie angemessen darauf zu reagieren. Dies bereitet die Studierenden auf ihre spätere Unterrichtstätigkeit vor, in der diagnostische Situationen Lernprozesse unterstützen. Die Ähnlichkeit zwischen der Unterrichtspraxis und dem forschenden Vorgehen im Seminar wird z.B. bei Meyer 2015 visualisiert.

Schema des Wechselspiels zwischen der Ebene der Lehrenden und der Ebene der Lernenden, wenn es um den Zusammenhang von Diagnose und Förderung geht.
Abb. 2: Diagnostische Situationen in der Unterrichtspraxis, Meyer 2015, S. 121

Forschendes Lernen umsetzen

Da „Diagnostische Kompetenz in Bezug auf fachliche Lernprozesse (…) immer nur fachspezifisch aufgebaut werden [kann] und (…) mit dem Aufbau eines didaktisch sensiblen Fachverständnisses und handlungsrelevanter didaktischer Kenntnisse“ (Prediger 2008, 89-90) eng verknüpft ist, wird sowohl das inhaltliche als auch das didaktische Verständnis exemplarisch zum Thema Terme, Gleichungen und Variablen vertieft.

Anschließend entwickeln die Studierenden eine diagnostische Problemlöseaufgabe zum Thema „Terme und Gleichungen“ um diesen Aspekt der Diagnosekompetenz auszubauen. In einem qualitativen Interview lassen die Studierenden die Aufgabe von SuS bearbeiten. Nach dem Transkribieren analysieren die Studierenden die Interviews mit Hilfe der objektiven Hermeneutik detailliert. Durch eine solche exemplarische detaillierte Analyse wird dieser Aspekt der Diagnosekompetenz weiterentwickelt. Abschließend konzipieren sie Aufgaben, die an die generierten Erkenntnisse anknüpfen und den weiteren Lernprozess dieser SuS sinnvoll unterstützen.

Da gute Diagnoseaufgaben zentral sind um Erkenntnisse zu erlangen, erhalten die Studierenden zu den entwickelten Aufgaben vor der Durchführung der Interviews eine Rückmeldung von der Seminarleitung sowie die Möglichkeit der Überarbeitung. Diese Rückmeldung erfolgt anhand der erarbeiteten Kriterien für guter Diagnoseaufgaben. Während der gesamten Erarbeitung und Durchführung der Forschung haben die Studierenden die Möglichkeit, Sprechstundentermine mit der Dozentin oder mit der Hilfskraft zu vereinbaren. Zusätzlich erproben die Studierenden ihre Aufgaben und Interviewleitfäden vor der konkreten Umsetzung, indem sie die Interviews mit anderen Studierenden des Seminars durchführen. Somit bekommen sie einen Einblick in mögliche Schwierigkeiten, Hürden und Fehlvorstellungen bei der Aufgabenbearbeitung und können ihre Interviews ggf. anpassen. Forschendes Lernen findet hier insofern statt, als dass das theoretische mathematikdidaktische Wissen durch das qualitative Forschungsprojekt vertieft und angewendet wird. Des Weiteren erlernen die Studierenden durch das Forschungsprojekt zentrale Kompetenzen für die Unterrichtspraxis, wie das Konzipieren von Diagnoseaufgaben, das Analysieren von SuS-Bearbeitungen sowie das Erstellen von angepassten Lernaufgaben. Somit wird das Ziel verfolgt „über die Studieninhalte und -kompetenzen forschend hinauszudenken, sie und auch die Lehrenden zu hinterfragen und im wissenschaftlichen Prozess selbst aktiv zu werden“ (FLiF 2017, 4).

Vier jüngere Menschen sitzen an einem Tisch, auf dem ein Tablet liegt, sowie Spielsteine und weiteres Material.
Abb. 3: Studierende erproben die von ihnen konzipierte Aufgabe und den Interviewleitfaden mit anderen Studierenden

Prüfung und Bewertung

Die in dem Seminar geforderte Prüfungsleistung setzt sich aus mehreren Teilleistungen zusammen, die in Dreiergruppen erarbeitet wurden. Der erste Teil besteht in einem 10-minütigen literaturbasierten Kurzvortrag zur theoretischen Fundierung der Seminarthemen. Die zweite Leistung stellt die Darstellung und Analyse der für das Interview entwickelten Aufgabe dar. Diese wird bereits vor der Durchführung der Interviews abgegeben und dient somit als Grundlage für die Rückmeldung durch die Seminarleitung. Im Anschluss an die Durchführung und das Transkribieren der Interviews folgt die didaktische Auswertung, die den größten Teil der Prüfungsleistung umfasst. Neben einem Rückgriff auf die Analyse der Aufgabe beinhaltet sie die genaue didaktische Analyse einzelner Sequenzen aus dem Interview, wodurch Rückschlüsse auf mathematische Vorstellungen der SuS zum Thema „Terme und Gleichungen“ sowie mögliche Forder- oder Fördermaßnahmen abgeleitet werden können. Insgesamt stellen die Studierenden somit ihren Forschungsprozess, ihre diesbezüglichen Überlegungen und den Theoriebezog dar. Darüber hinaus werden sie zur Reflexion des eigenen Handelns und des durchlaufenden Lernprozesses angeregt.

Beispiel-Diagnoseaufgabe: 
a) Lisa wünscht sich ein neues Armband. Es soll ihr perfekt passen. Sie hat extra dafür den Umfang ihres Handgelenks gemessen. Dieser beträgt 19 cm. Für das Armband möchte Lisa die folgenden Perlen verwenden [Bild Auflistung von drei Perlen]. Lisa wünscht sich ein buntes Armband. Entwickle eine geeignete Perlenkombination für Lisa.
Abb. 4: Eine weitere von den Studierenden im Seminar entwickelten Diagnoseaufgabe, die sie für ihr Forschungsprojekt eingesetzt haben

Erfahrung

Die Studierenden des Seminars verfügten bereits über einige mathematikdidaktische Grundlagen, da sie sich im Master befanden und somit einige Module mit mathematikdidaktischem Schwerpunkt absolviert hatten. Durch das Seminar wurde an diese Vorkenntnisse angeknüpft, einige Aspekte aufgegriffen und vertieft, andere Aspekte wie Methoden qualitativer Forschung neu eingeführt. Das Finden oder Erstellen von geeigneten Diagnoseaufgaben anhand festgelegter Kriterien stellte die Studierenden zu Beginn vor eine Herausforderung. Schwierig war dabei vor allem die Passung sowohl in Bezug auf das Niveau und Alter der SuS als auch auf das Diagnoseziel. Zusätzlich waren das Durchführen und Auswerten eines leitfadengestützten Interviews mit dem Verfahren der objektiven Hermeneutik für viele Studierende etwas Neues. Für eine in Bezug auf die Vorkenntnisse der Studierenden passgenaue Konzeption des Seminars sowie zur Unterstützung bei den genannten Herausforderungen war die studentische Hilfskraft von Bedeutung.

Nach der Überwindung der anfänglichen Schwierigkeiten und Unsicherheiten war die Interviewdurchführung erfolgreich. Viele Studierende berichteten von spannenden Ergebnissen, die häufig trotz der ausführlichen Planung unerwartete Aspekte beinhalteten. Manche Studierenden stellten fest, dass die offenen Aufgaben für die SuS teilweise ungewohnt waren und sie vor besondere Herausforderungen stellten. Bei der Analyse der Interviews konnten sie trotzdem oder auch gerade deswegen einiges über die SuS-Vorstellungen erfahren. Viele Gruppen reflektierten die Durchführung ihres Interviews und überlegten sich eigenständig Verbesserungsvorschläge, wie das Vermeiden von zu vielen Hinweisen in der Position des Interviewenden oder einer genaueren Planung eines Interviewabschlusses.

Insgesamt zeigten sich durch das Seminar spannende Entwicklungen und Ergebnisse sowohl bei der Konzeption von Diagnoseaufgaben als auch bei der Interviewdurchführung, der Analyse und Interpretation der Daten sowie der Erstellung von anschließenden Lernaufgaben. Die fast durchweg gelungenen bis sehr gelungenen Ausarbeitungen zeigen – mit Blick auf die anfänglichen Schwierigkeiten und die erste Teilleistung – den großen Lernfortschritt der Studierenden. Viele Studierende empfanden es als hilfreich, dass durch die Hilfskraft zwei Ansprechpartnerinnen zur Verfügung standen. Das sehr positive Feedback der Studierenden unterstützt dabei den Eindruck des gelungenen Seminars.

Quellen

Büchter, A. & Leuders, T. (2005). Mathematikaufgaben selbst entwickeln. Lernen fördern – Leistung überprüfen. Cornelsen Scriptor.

Fischer, A.; Hößle, C.; Jahnke-Klein, S.; Kiper, H.; Komorek, M.; Michaelis, J.; Niesel, V. & Sjuts, J. (Hrsg.) (2014): Diagnostik für lernwirksamen Unterricht. Schneider.

FLiF (2017). Forschungsbasiertes Lehren und Lernen an der Universität Oldenburg. https://uol.de/fileadmin/user_upload/lehre/flif/forschen-at-studium_Grundlagenpapier-2017_print.pdf

Prediger, Susanne (2008). „… nee, so darf man das Gleich doch nicht denken!“ – Lehramtsstudierende auf dem Weg zur fachdidaktisch fundierten diagnostischen Kompetenz. In B. Barzel, T. Berlin, D. Bertalan, A. Fischer (Hrsg.): Algebraisches Denken. Festschrift für Lisa Hefendehl-Hebeker, Franzbecker, S. 89 – 99. http://www.mathematik.tu-dortmund.de/~prediger/veroeff/08-Festschrift-Hefendehl-Diagnose.pdf

Meyer, Alexander (2015). Diagnose algebraischen Denkens – Von der Diagnose- zur Förderaufgabe mithilfe von Denkmustern. Springer.